Westwärts

Nach mehrjähriger und geduldig ertragener Askese sollte es für die Astrogruppe im April 2019 endlich wieder mal auf eine Reise gehen! Einer Anregung unseres rührigen Mitglieds Dominik folgend, wollten wir Herrn Prof. Günther Dissertori von der ETH Zürich an seinem "Arbeitsplatz" besuchen, am Forschungszentrum CERN in Genf. Dort ruht in einer Tiefe von etwa 100 m unter der schweizer-französischen Grenze der LHC, der Large Hadron Collider, eine Maschine der absoluten Superlative!

Die lange und beschwerliche Busfahrt von Bruneck bis Genf wollten wir jedoch nicht in einem Streich zurücklegen, sondern uns - Vorfreude ist die schönste Freude - zuvor ordentlich auf das nahende Highlight einstimmen! So fiel die Wahl auf das Science Centre Technorama in Winterthur und auf das Kernkraftwerk Gösgen als zusätzliche Programmhighlights. Die beiden Städte Zürich und Bern sowie das Berner Wohnhaus von Albert Einstein planten wir "im Vorbeigehen" mitzunehmen.

Gesagt, getan! Am frühen Morgen des 9. April 2019 stiegen 16 Schüler, der Laborant Alex Zelger und meine Wenigkeit noch ziemlich schlaftrunken in den wartenden Kleinbus. Nicht alle 16 Teilnehmer waren Mitglieder der Astrogruppe, stattdessen wurde unser Astro-Trupp durch acht physikaffine Maturanten komplettiert.

Das Winterthurer Wetter zeigte sich zu unserer Begrüßung nicht gerade von seiner besten Seite, doch konnte uns das schnurzpiepegal sein. In den nächsten drei Stunden würden wir entspannt durch die Ausstellungsräume streifen und die verschiedensten Experimente und Gadgets sehen und anfassen dürfen.

Die drei Stunden reichten bei weitem nicht! Um alles zu sehen, wäre, so waren wir uns einig, mindestens ein ganzer Tag nötig- den wir aber nicht hatten, denn bereits um 14:00 Uhr waren wir in einem der vielen Laborräume zu einem Atomphysik-Workshop geladen. Acht Experimentierstationen standen bereit, großteils Versuchsaufbauten, welche in unserem Schullabor nicht zur Verfügung standen. In den nächsten drei Stunden arbeiteten Zweierteams intensiv an folgenden Experimenten:

  • an der Bestimmung der Ladung eines Elektrons im sogenannten Milikan-Versuch, 
  • an der Vermessung eines Kristallgitters mittels Röntgenstrahlen, 
  • an der Bestimmung der Halbwertszeit von radioaktivem Radon mit der Nebelkammer, 
  • am Ergründen des Aufbaus des Periodensystems, 
  • an der Bestimmung der spezifischen Ladung des Elektrons mittels Fadenstrahlrohr, 
  • am Vermessen der Hülle des Wasserstoffatoms mittels Spektroskopie,
  • am Nachweis der Existenz von Atomkernen mittels Rutherford-Streuung und 
  • an der Vermessung der Größe von Atomen durch den Ölfleckversuch.

Dank der zur Verfügung gestellten, detaillierten Anleitungen, der professionellen Unterstützung zweier Tutoren und dem überschäumenden Arbeitseifer der Schüler gelangen alle Versuche "par excellence" und bei der gegenseitigen Präsentation der Ergebnisse entstand in unseren Köpfen ein klares Bild vom Aufbau der Materie. Das Workshopangebot des Technoramas kann nach meiner Meinung aus vollem Herzen empfohlen werden!

Bild 1: Arbeit an den verschiedenen Experimenten beim Atomphysik-Workshop im Technorama.

Bild 2: Beobachtung und fotografische Erfassung der Zerfallsspuren von radioaktivem Radon.

Der nächste Tag war nicht minder spannend und informativ! Früh morgens brachen wir von Zürich nach Gösgen auf, um das dortige Kernkraftwerk zu besichtigen. Obwohl uns aufgrund von übermäßig strikten Sicherheitsvorschriften der Zugang zum neugierig von uns belugten Reaktorgebäude selbst verwehrt blieb, war es doch ein durch und durch gelungener Vormittag! An einem großen Modell im Eingangsbereich wurde zunächst der grundlegende Aufbau und die Funktionsweise des AKWs in waschechtem Schwitzerdütsch durchgesprochen. Im Anschluss ging es in zwei Kleingruppen zur Werksbesichtigung. Besonders die schwül-heiße Halle mit den dröhnenden und vibrierenden Dampfturbinen, aber auch der wuchtige, 150 m hohe Kühlturm brannten sich uns ins Gedächtnis ein.


Bild 3: Unser Reisetrupp vor dem enormen Kühlturm, aus welchem Dampfschwaden steigen.


Bild 4: Auf dem Weg zum CERN machten wir in Bern Station, um das Wohnhaus von Albert Einstein zu besuchen.

Doch das große Finale sollte am dritten und letzten Tag unserer Reise folgen: der Einblick in das  weltbekannte Forschungszentrum CERN! Der dort in 100 m Tiefe verlaufende Teilchenbeschleuniger LHC ist eine Röhre mit einem Umfang von 27 km. In dieser Röhre sausen für gewöhnlich Pakete zu je 100 Milliarden Protonen im Kreis und das sagenhafte 11.000 Mal pro Sekunde! Damit enthalten diese Protonenpakete trotz der verschwindend geringen Masse von Protonen die Energiemenge eines dahinbrausenden Hochgeschwindigkeitszuges! An vier Stellen im Ring, dort wo die Detektoren sitzen, prallen diese Protonenpakete frontal aufeinander und erzeugen einen Schwall an Elementarteilchen. Deren Bahnen werden akribisch detektiert und vermessen, stets auf der Suche nach der einen, bislang unbekannten Signatur, der sprichwörtlichen "Nadel im Heuhaufen"! Was heute am CERN entdeckt wird, mag in fünfzig oder hundert Jahren das Gros des Bruttoinlandsproduktes erzeugen, so wie es dereinst bei der Quanten- und Halbleiterphysik der Fall war.

Die Superlative des LHC würden noch viele Absätze füllen, doch die Taste mit dem Ausrufungszeichen klappert jetzt schon bedenklich, deshalb sei nur gesagt: Wir waren tief beeindruckt von der Ausdehnung des Campus, von dem quirligen Treiben am Gelände, von der babylonischen Sprachenvielfalt und der Internationalität der Forschergemeinde, vom fesselnden und tief philosophischen Vortrag von Prof. Dr. Dissertori und nicht zuletzt von der Ehrfurcht einflößenden Mächtigkeit des CMS-Detektors selbst. Jeder, der etwas Zeit erübrigen kann, sei ermuntert, sich zu diesem Mekka der modernen Forschung aufzumachen. Für zwei Jahre ist der LHC wegen Umbauarbeiten im Winterschlaf, also der perfekte Zeitpunkt!

Bild 5: CMS-Experiment zum Nachweis von neuen Elementarteilchen im LHC.
15 m im Durchmesser, 21 Meter lang, 14.000 Tonnen schwer, bestückt mit teifgekühlten und
supraleitenden Magneten mit 20.000 Ampere Stromstärke... Ein Glanzstück unserer Zivilisation.


Bild 6: Ein Teil unserer Reisegruppe mit Prof. Dr. Dissertori vor dem CMS-Detektor.


Unser Busfahrer Sadri, welcher uns auf unseren langen und beschwerlichen Fahrten wahrhaft erstklassig chauffierte und betreute, kam übrigens ganz unerwartet ebenso in den Genuss des Besuchs beim CMS-Detektor, auch wenn wir ihn zunächst darüber aufklären mussten, was es denn war, das er da mit großen Augen bestaunte! Man sieht also, man muss nicht unbedingt Elementarteilchenphysik studieren, um was zu erleben! Andererseits: Elementarteilchenphysik!!!1!11!  😍💘
Jetzt ist die Taste endgültig hinüber... 😉

Zu guter Letzt sei, so leid es uns tut, allen Verschwörungstheoretikern der Wind aus den Segeln genommen: Bei der Auffahrt mit dem Aufzug aus dem CMS-Schacht hat Maximilian mittels der Handy-App "Phybox" ein Beschleunigungs-Zeit-Diagramm aufgezeichnet und daraus die von der Kabine zurückgelegte Strecke berechnet: Es waren... dramaturgische Pause...  86,5 m! ✌️

Bild 7: Messung der Beschleunigung im CMS-Aufzug mit Phybox und Auswertung mit Excel.



Christof Wiedemair


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